Eine Nudisten-WG, ein Selbstversuch und jede Menge nackter Tatsachen. | Teil 2

 Teil 1: Die Nudisten-WG | Teil 3: Der Selbstversuch

11076730_10152813841507685_361896180_n

Vielleicht muss ich dem Nacktsein noch eine zweite Chance geben?

Die zweite Chance wird relativ schnell konkret: Ich verabrede mich mit Oskar und Felix zum Nacktvolleyball. Zu Hause stelle ich mich probeweise vor den Spiegel, hüpfe auf und ab und imitiere Volleyballbewegungen. Das sieht nackt irgendwie ziemlich bescheuert aus. Alles wackelt und ich fühle mich äußerst unästhetisch. Zweifel kommen hoch und wie aus dem Nichts tauchen Fragen auf, über die ich mir beim Volleyball bisher noch nie Gedanken gemacht habe: Was passiert eigentlich mit dem ganzen Schweiß, den vorher meine Klamotten aufgefangen haben? Sind Schuhe und Knieschoner denn erlaubt? Wie sieht das mit Sport-BHs aus? Die Volleyballgruppe besteht ausschließlich aus Männern, wird das komisch? Panik steigt in mir auf und ich merke, dass ich noch nicht bereit bin. Ich beschließe daher mir eine andere Seite der Freikörperkultur genauer anzuschauen: Die FKK-Vereine. Ich möchte mit Leuten sprechen, die nicht wie Felix und Oskar ungefähr in meinem Alter sind, sondern schon länger als FKKler leben und Erfahrung mit Zweiflern wie mir haben.

„Ich muss irgendwo einen Platz haben mit Licht, Luft, Sonne und Natur…“

Der Weg zum Saunafreunde Berlin Familiensportverein e.V. führt mich mitten ins Grüne an den Heiligensee. Es ist einer jener Tage, an dem sich das Wetter nicht entscheiden kann: Es ist gleichzeitig heiß und trotzdem regnet es in Strömen. Ein blaues Schild weist mir die Richtung. Darauf ist ein runder Kreis mit dem gelben Logo des Vereins: Eine Frau, die mit nach oben gestreckten Armen anmutig über eine Sonne springt. Ich betrachte das Schild als eine alte Dame mich in freudiger Erwartung anspricht.

„Kennst du den Verein?“

Sie schließt die Tür ihres Autos und kommt lächelnd auf mich zu. Sie hat eine füllige Figur, ist eindeutig keine BH-Trägerin, hat graue Haare und trägt wie viele Damen ihres Alters einen praktischen Kurzhaarschnitt. Ich verneine ihre Frage und ihre Augen beginnen zu leuchten.

„Der Verein war die beste Entscheidung meines Lebens! Ich bin hier vor 26 Jahren angekommen und habe gedacht: `WOW!´“

Die ältere Dame heißt Molly, ist 75 Jahre alt und war ehemals leitende OP-Schwester. Sie ist einer jener Menschen, die man zwar nicht kennt, die einem jedoch mit einer solchen Herzlichkeit begegnen, dass man sich sofort wohl fühlt. Wenn sie spricht, verleiht sie jedem ihrer Worte Nachdruck.

„Damals war Berlin noch fest umschlossen und ich dachte, ich muss irgendwo einen Platz haben mit Licht, Luft, Sonne und Natur. Es war nicht ganz einfach damals und dann gab mir jemand den Hinweis, hier gäbe es einen FKK Verein. Das war sowieso schon immer mein Ding und dann habe ich gesagt so, jetzt bin ich am richtigen Platz. Das war eine besondere Erfahrung, nach der harten Arbeit hier rauszukommen und die Plünnen vom Leib zu reißen!“

Molly lebt für die Freikörperkultur und mit jedem Satz, den sie sagt, spürt man, dass sie hier hingehört. Sie erzählt mir viel über sich und ihr Leben, den Verein und die Anfänge der Freikörperkultur in Berlin. Wo die Leute dem engen Hinterhäuser-Zille-Millieu entflohen, um an Luft, Licht und Sonne zu gelangen. Wie Adolf Koch 1924 den ersten FKK-Verein gründete, dem etliche folgten. Damals konnten sich die Vereine vor Zuwachs kaum retten, es gab sogar Aufnahmestopps. Man brauchte mindestens zwei Bürgen im Verein und musste eine Probezeit von einem Jahr durchlaufen. Heute fehlt es den Vereinen an Nachwuchs. Molly seufzt. Auf die Frage, wie man das ändern könne, ist auch sie ratlos.

„Wir sind sehr am Grübeln! In dem Moment, wo es einen Mitgliederschwund gibt, und den haben wir auch, muss man überlegen woher das kommt. Ich war ein Jahr in einer Arbeitsgemeinschaft, die nach Ideen gesucht hat, wie man das ändern kann, aber es ist sehr schwer. Man muss wirklich erst mal überzeugen… wenn sie dann hier sind und miterleben, wie selbstverständlich und wie frei es ist… Mit Sagen alleine kann man aber nicht überzeugen.“

Als Jörg Schmidt (55), Pressesprecher der Saunafreunde und mein eigentlicher Gesprächspartner, das Gelände betritt, bin ich immer noch in das Gespräch mit Molly vertieft. Er begrüßt uns lachend und erkundigt sich, ob ich überhaupt noch Fragen für ihn übrig hätte. Das Wetter scheint Molly einen Gefallen zu tun, denn der Regen hat sich verzogen und stattdessen präsentiert sich das Gelände in strahlendem Sonnenschein. Willkommen im Paradies, wirbt die Internetseite der Saunafreunde und tatsächlich bin ich geneigt dem zuzustimmen als Jörg mich über die Rasenflächen führt. Das Gelände ist größer als ich von außen angenommen hatte. Eine große Rasenfläche bietet direkten Zugang zum Heiligensee, überall ist es grün, Pfade schlängeln sich durch die Bäume und Sträucher, dazwischen verschiedene Sportanlagen und Holzhütten. Wie eine Schrebergartenkolonie, nur ohne Zäune, dafür mit mehr Volleyball, Badminton und Boule. Während Jörg spricht und mir jeden Winkel der Anlage zeigt, klingt er stolz und erkundigt sich immer wieder, ob die Anlage nicht schön sei.

„Alles zusammen, dieses Gesamtpaket ist sehr paradiesisch. Ich finde, dass das außergewöhnlich ist, und sich nicht an jeder Ecke findet. Wir verstehen unter Freikörperkultur nicht ausschließlich nackt rumlaufen und baden. Sondern wir verstehen da unbedingt auch drunter, dass wir den anderen unabhängig von seiner Glaubensanschauung, Weltanschauung, Hautfarbe oder gegebenenfalls körperlicher Versehrtheit betrachten. Wir sehen jeden als gleichwertiges Mitglied unserer Gesellschaft und entkleiden uns unter anderem, um eine Ebene zu finden, auf der wir einigermaßen gleich sein können.“

Er scheint fast jeden der Leute auf der Anlage zu kennen und bleibt ab und zu stehen um sich mit einem von ihnen zu unterhalten. Dabei treffen wir auf weniger Nackte als man sich das in einem FKK-Verein so vorstellt. Und auch sind es keineswegs nur Greise oder ausschließlich Männer, sondern es sind auch junge Leute im Alter von Oskar und Felix oder Frauen unter den Besuchern. Jörg erzählt mir, dass sich der Verein im Verlauf der Jahre deutlich gelockert hat. Die Zeiten sind vorbei, wo Bekleideten auf dem Gelände unter Zwang die Klamotten vom Leib gerissen wurden, so wie Molly mir das von Früher erzählt hatte.

„Das gibt es nicht mehr, wir sind da sehr viel liberaler geworden. Allerdings hab ich persönlich wenig Verständnis dafür, wenn Erwachsene Kleidung tragen. Da müssen sie dann einfach sehen und sich fragen, ob sie hier richtig sind.“

Jörg ist ein Mann mit Prinzipien. Er tritt für seine Überzeugung ein und besonders wenn es um die Wahrnehmung von Nacktheit in der Gesellschaft geht, redet er sich in Rage.

„Wir werden mit reichlich Vorurteilen konfrontiert. Und die schlimmsten Vorurteile sind natürlich die, dass wir hier einem unzüchtigen Treiben frönen würden. Das ist das Hauptproblem. Die Gesellschaft ist der Meinung, dass das unanständig ist, was wir machen.“

Er schüttelt den Kopf und seine Stimme erhebt sich.

„Diejenigen, die sich tatsächlich Gedanken machen über FKK, bei denen es Bestandteil der Lebenseinstellung ist, denen fällt die Verlogenheit unserer Gesellschaft besonders auf. Wenn man überlegt, wenn du durch diese Stadt läufst und siehst was dir an großen Plakatwänden so geboten wird an sexistischem Kram! Auf der anderen Seite aber dieser völlige Schwachsinn, dass es unanständig sein soll sich ganz auszuziehen. Wenn man mit der Andeutung eines Slips rumläuft, ist das okay, wenn man ohne rumläuft, dann soll das unanständig sein. Es ist viel weniger auffällig, viel weniger aufreizend, geht viel weniger in diese sexistische Richtung! Das ist unverständlich, oder? Aber warum ist das so?“

Noch unmöglicher findet Jörg nur, wenn die Freundinnen seiner 9-Jährigen Tochter nicht mit ihr auf das FKK- Gelände zum Spielen kommen dürfen. Dieses Beispiel zeigt gut, dass mit dem Thema FKK nicht immer locker umgegangen wird. Nicht jeder geht daher mit seiner Mitgliedschaft so offen um wie Molly oder Jörg.

„Viele unserer Mitglieder, gleich welchen Alters, stehen draußen nicht zu ihrer Vereinsmitgliedschaft. Sie haben Angst vor Nachteilen, Mobbing oder vor beruflichen Problemen. Das gilt auch für die erwachsenen Mitglieder.“

Auch Molly hat mir von den negativen Reaktionen der Leute erzählt.

„‘Das brauch ich nicht. Oh Gott nein, das wäre nichts für mich. Nee, lass mich damit bloß in Ruhe, das ist nicht mein Ding. Sei mir nicht böse, aber mit FKK habe ich nichts am Hut.‘ Ich habe schon zu vielen Frauen gesagt, du komm doch einfach mal her und guck‘s dir an. Das war wirklich spannend. Wenn sie dann hier waren und geschwommen sind, dann haben sie gesagt, ich gehe keinen Schritt mehr weg!“

Während ich Molly und Jörg zuhöre, vergesse ich fast, dass ich einer von den Menschen bin, von denen sie sprechen. Denen es unangenehm ist sich auszuziehen und die lieber im Badeanzug rumrennen. Ich verlasse die Saunafreunde mit einem guten Gefühl und bin für das Volleyballspielen gewappnet. Ich fühle mich bereit für das Nacktsein und bin überzeugt, dass ein wenig Gelassenheit von Jörg und Molly auf mich abgefärbt hat.

 Teil 1: Die Nudisten-WG | Teil 3: Der Selbstversuch